Als der im Dezember 2023 verstorbene Wolfgang Schäuble in seiner Funktion als Präsident des Deutschen Bundestages am 9. November 2018 die Ansprache zum Gedenktag im Parlament hielt, leitete er seine Rede mit den Worten ein: »Der 9. November ist der deutsche Schicksalstag. An diesem Datum verdichtet sich unsere jüngere Geschichte in ihrer Ambivalenz, mit ihren Widersprüchen, ihren Gegensätzen. Das Tragische und das Glück, der vergebliche Versuch und das Gelingen, Freude und Schuld: All das gehört zusammen. Untrennbar.«[1]

Dem ist nicht zu widersprechen; im Gegenteil: Im Morgengrauen des 9. November 1848 wurde der Abgeordnete der Frankfurter Paulskirche, Robert Blum, in Wien standrechtlich hingerichtet. Die Schüsse unter Missachtung der politischen Immunität des Verurteilten zielten nicht allein auf die Brust des Freiheitskämpfers, sie zielten auch und vor allem auf die revolutionäre Masse hinter ihm, zugleich auf deren Streben nach Einigkeit und Recht und Freiheit. Am Ende scheiterten alle Bemühungen, und es sollte 70 Jahre und einen Weltkrieg dauern, bis sich die Deutschen erfolgreich gegen ihre Monarchen stellten. Am 9. November 1918 gewannen die Aufständischen in der Reichshauptstadt Berlin die Oberhand, der Kaiser war geflohen, die Republik wurde gleich zweimal ausgerufen. Damit setzte nicht nur eine politisch-gesellschaftliche Zeitenwende ein; auch die Deutung der demokratischen Geschichte Deutschlands trat in eine neue Dimension. Von linksradikaler Seite als unvollendet gegeißelt, war die Novemberrevolution rechten Kreisen von Beginn an derart verhasst, dass die Gegenrevolutionen unmittelbar folgten: nach Umsturzversuchen von rechts im Zuge der Rückkehr der Fronttruppen sowie von links zur Errichtung von Räterepubliken im Jahr 1919 versuchten Monarchisten im Zuge des Kapp-Lüttwitz-Putsches 1920, das Rad der Zeit zurückzudrehen, bevor der »Führer« der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung, Adolf Hitler, im Schulterschluss mit rechtsextremen Eliten des Kaiserreiches um den Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff am 9. November 1923 mit dem Marsch zur Münchener Feldherrnhalle zum Sturm auf die Republik blies. Gegen alle Angriffe erwies sich die junge Demokratie als äußerst standhaft und wehrte sämtliche Putschversuche erfolgreich ab.


Bereits zur Gründung der ersten deutschen Demokratie mobilisierte das Schlagwort von der »Judenrepublik« rechte Kräfte zum Kampf gegen die staatliche Ordnung. Mit der erfolgreichen Zerstörung der Weimarer Republik durch ihre antidemokratischen Feinde Anfang der 1930er Jahre und auf dem Weg in die Diktatur des »Dritten Reiches« wurde der Antisemitismus zur Staatsdoktrin. Infolge eines politisch betriebenen Prozesses rassistischer Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile brach sich die Gewalt am 9. November 1938 Bahn. Synagogen brannten, jüdische Friedhöfe wurden geschändet, Geschäfte geplündert, Juden angefeindet, gedemütigt, geschlagen, gemordet, sowie zu Tausenden in Konzentrationslager verschleppt. Der systematische Terror war einmal mehr nicht nur für jeden Deutschen und jede Deutsche erneut in aller Brutalität sichtbar geworden, er war auch eine Aufforderung zur Teilnahme – welcher nicht wenige aus der »Volksgemeinschaft« bereitwillig Folge leisteten.

Mit der Zustimmung zur und Anteilnahme bei der kompromisslosen Ausgrenzung schritt die Dynamik der Radikalisierung voran, an deren Ende mit der Shoah das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte stand. Nach dem Zweiten Weltkrieg und Millionen Toten sollte es fast ein halbes Jahrhundert, die Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und die Gründung von zwei deutschen Staaten (über)dauern, bis das »schicksalhafte« Datum wieder mit einem herausragenden Ereignis in der Geschichte unseres Landes, und nunmehr positiv besetzt werden würde: Am Höhepunkt der Friedlichen Revolution mit ihren zahlreichen Bewegungen und Demonstrationen in allen Regionen der DDR wurde am 9. November 1989 unter der leidenschaftlichen Losung »Wir sind das Volk« die Mauer zwischen Ost und West gestürzt – was nicht nur die Deutschen und ihr zusammenwachsendes Land, sondern über Europa hinaus auch die gesamte Welt nachhaltig veränderte. Um es mit dem eingangs zitierten Bundestagspräsidenten auf einen Punkt zu bringen: »Was für ein denkwürdiges Datum.« Und weiter: »Gefährden wir Freiheit und Frieden nicht, niemals wieder – das ist die beständige Mahnung des 9. November, dieses Schicksalstages aller Deutschen.«

Schon vor diesen eindringlichen Worten von Wolfgang Schäuble im Jahr 2018 unterstrich der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede unter lautem Applaus die große Bedeutung des Tages als »Meilenstein« für die deutsche Demokratiegeschichte. Ferner verdeutlichte er die damit verbundene Aufgabe, sich an die Geschichte(n) zu erinnern, was nicht allein heißt, ihre Abgründe zu mahnen, sondern vor allem auch die demokratischen Sternstunden zu feiern. Schließlich musste er am 100. Jahrestag der Novemberrevolution feststellen, dass der 9. November 1918 wie »ein Stiefkind unserer Demokratiegeschichte« nicht den Platz in der Erinnerungskultur hat, der ihm als Wegpunkt zum »Durchbruch der parlamentarischen Demokratie in Deutschland« zusteht. Und das vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen, in denen »die liberale Demokratie wieder unter Druck gerät, in denen ihre Gegner lauter und selbstbewusster werden« sowie allerorten das Schlagwort von den »Weimarer Verhältnissen« die Runde macht.[2]
Ergänzt werden kann: Jetzt ist die Zeit, den 9. November zum nationalen Gedenktag der Deutschen zu machen. Schließlich trägt diesem Ansinnen auch der Abschlussbericht der Kommission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit« Rechnung und unterstreicht die Aktualität, indem hier unter anderem gefordert wird, »den 9. November als nationalen Gedenktag zu etablieren. Die symbolpolitische Kraft des Datums 9. November soll somit im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundprinzipien der Bundesrepublik stärker genutzt werden und Identifikation mit der deutschen Geschichte vermitteln.«[3]

Selbst das notwendige Erreichen dieses Zieles würde aber alles andere als ein Ende des Prozesses der Gestaltung einer lebendigen Erinnerungskultur markieren. Mit wachsendem Abstand zu den historischen Ereignissen genügt es schließlich nicht, Jahrestage allein als Anlass für ein zunehmend ritualisiertes Gedenken zu nutzen. Es gilt vielmehr, immer wieder aufs Neue Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, diese zu diskutieren sowie auf ihre Aktualität und Anwendbarkeit bezüglich gegenwärtiger Herausforderungen zu prüfen. Dies betrifft insbesondere jene Jahrestage, die weit zurückliegen und von jüngeren Ereignissen zunehmend überschattet werden. Nach mehr als 175 Jahren ist schließlich kaum einer Deutschen oder einem Deutschen die Hinrichtung Robert Blums mehr ein Begriff. Ähnlich verschwindet die Erinnerung an die Novemberrevolution 1918 aus dem kollektiven Gedächtnis. Dem erinnerungskulturell beistehenden Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 wurde 2023 zwar intensiv gedacht; wie nachhaltig das war, muss sich aber erst zeigen. Schließlich war die Erinnerung daran bis dato nur wenig bis gar nicht vorhanden. Ähnliches gilt für das Attentat von Georg Elser 1939. So betrachtet, steht auch zu befürchten, dass der 9. November 1938 im gemeinschaftlichen Bewusstsein immer weiter verblassen wird, je mehr Zeit zwischen Ereignis und Gegenwart liegt. Eine Bündelung der Erinnerung in einen Nationalen Gedenktag 9. November hingegen würde allen historischen Entwicklungen immer wieder einen Raum geben – ohne dabei zu relativieren. Vielmehr würde die einhergehende Tradierung des Gedenkens immer auch den Rahmen dafür bieten, einzelnen Ereignissen besonders zu gedenken: So vor allem der antisemitischen Novemberpogrome des Jahres 1938, denen etwa Bundeskanzler Olaf Scholz am 85. Jahrestag unter dem Motto „Die Erinnerung wachhalten“ besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ, indem er in der Berliner Beth Zion Synagoge erklärte: „Das Versprechen, auf dem unser demokratisches Deutschland gründet; das Versprechen: Nie wieder! Dieses Versprechen müssen wir gerade jetzt einlösen nicht nur in Worten, sondern vor allem auch in unserem Handeln.“[4]
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Die Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte (GEDG) mit Sitz in Weimar und Mainz hat unter anderem den Auftrag, die demokratische Erinnerungskultur aktiv mitzugestalten und dabei die Identifikation mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Zusammenlebens zu stärken. Das in diesem Zusammenhang im Jahr 2021 initiierte Netzwerk 9. November schafft die notwendige Basis, um alljährlich in gemeinsamer Anstrengung am Nationalen Gedenktag ein lokales Zeichen gegen Menschenfeindlichkeit, politischen Extremismus und Antisemitismus sowie für ein demokratisches Miteinander zu setzen. Die Mitglieder des Netzwerkes machen es sich zur Aufgabe, die Geschichte durch gemeinsame Aktionen sichtbar(er) zu machen und Veranstaltungen durchzuführen, an denen eine breite Öffentlichkeit teilhaben kann. Dabei geht es ihnen selbstverständlich in erster Linie um die Erinnerung an den 9. November 1938 und die Shoah. Zugleich besteht jeweils aber auch der Anspruch, die weiteren Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Christian Faludi
[1] www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/018-577028 (z.a. 24.8.2024).
[2] www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2018/11/181109-Gedenkstunde-Bundestag.pdf?__blob=publicationFile (z.a. 24.8.2024).
[3] www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/abschlussbericht-kommission-30-jahre.html (z.a. 24.8.2024).
[4] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/erinnern-und-gedenken/gedenken-85-jahre-reichspogromnacht-2235698 (z.a. 24.8.2024).
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